Morbus Israel und die Zumutbarkeit jüdischer Polemik

Ein Beitrag über Maxim Billers Kolumne und den reflexhaften Umgang mit Sarkasmus in der deutschen Israel-Debatte

Vor einigen Tagen erschien in ZEIT Online eine Kolumne von Maxim Biller mit dem Titel „Morbus Israel“. Sie war keine zwölf Stunden online, da wurde sie bereits wieder entfernt. Die Redaktion sprach von einer falschen Tonlage, zahlreiche Stimmen äußerten sich empört, viele Leser:innen waren fassungslos. Ich nicht. Ich war beeindruckt. Beeindruckt von der Wucht, dem bitteren Spott, dem literarischen Zorn, der sich Bahn brach in diesem Text – und der zugleich eine Frage aufwirft, die in all der moralischen Verkleidung unserer Diskurse meist nur flüstern gestellt wird: Warum hält sich die deutsche Israel-Debatte für so aufgeklärt und ist zugleich so schlecht darin, jüdische Zumutungen auszuhalten?

Biller beschreibt den „Morbus Israel“ als eine Obsession der deutschen Gesellschaft: ein Pathos, das sich immer dann meldet, wenn der jüdische Staat handelt, sich verteidigt, Fehler macht oder Krieg führt. Dann wird das Völkerrecht beschworen, wird von „Verhältnismäßigkeit“ gesprochen, und plötzlich erscheinen deutsche Talkshow-Moderatoren wie Staatsanwälte. Die eigentliche Pointe liegt aber tiefer: Biller unterstellt, dass es sich nicht um rational abgewogene Kritik handelt, sondern um eine rituelle Selbstvergewisserung, gespeist aus Schuld, Abwehr und der Enttäuschung darüber, dass die „Juden von früher“ heute einen wehrhaften Staat betreiben.

Das ist überzogen? Ja. Polemisch? Ja. Ungerecht in manchen Punkten? Auch das. Aber eben genau deshalb wertvoll. Denn Biller zwingt uns, uns zu fragen, warum wir so schlecht darin sind, Ambivalenz auszuhalten. Warum uns eine jüdische Stimme, die nicht um Verständnis wirbt, sondern wütend ist, verletzt. Warum ein Text, der mit Ironie arbeitet, sofort als Gefahr empfunden wird. Warum wir so großzügig mit jüdischer Opfererwartung sind, aber so geizig mit jüdischem Trotz.

Billers Text ist keine Verteidigung Netanjahus, keine Leugnung von Kriegsverbrechen, keine Abwertung palästinensischen Leids. Er ist ein Gegenschlag. Gegen die Selektivität unserer Empathie. Gegen das Missverständnis, dass man jüdischen Schmerz nur in der Rolle des Opfers sprechen darf. Und gegen eine Medienöffentlichkeit, die immer wieder zeigt: Polemik darf alles – außer jüdisch sein.

In einer Zeit, in der viele Stimmen moralisieren, überhöhen, einfrieren, ist ein Text wie „Morbus Israel“ eine Zumutung. Aber eine notwendige. Vielleicht sogar eine heilende. Weil er genau das tut, was eine gute Kolumne tun sollte: Sie verschiebt den Rahmen. Sie provoziert Denken. Und sie hält dem Diskurs den Spiegel vor.

Wenn wir es ernst meinen mit der Meinungsfreiheit, mit jüdischer Sichtbarkeit und mit dem Anspruch auf Debatte, dann darf ein solcher Text nicht verschwinden. Sondern muss ausgehalten, beantwortet, kritisiert, vielleicht sogar verstanden werden. Nicht als Letztwort, sondern als Beitrag. Als eine Stimme unter vielen. Aber eben: als eine jüdische Stimme.

Und die sollten wir gerade jetzt nicht zum Schweigen bringen.

Denn wie zur Bestätigung seiner Diagnose setzte ein seltsamer Mechanismus ein: Nicht etwa Diskussion, Widerspruch, vielleicht sogar ein Gegentext. Sondern Löschung. Tonlagenalarm. Ein Zuviel an Sarkasmus, ein Zuwenig an Pietät, ein literarischer Infarkt inmitten der moralischen Mitte. Statt sich von der Kolumne provozieren zu lassen, wurde sie entfernt – als wäre jüdische Polemik eine Unwucht im deutschen Debattenmotor. Dass Biller mit seinem Text genau jene Reaktionsspirale entlarvt, die nun auf ihn losgeht, ist fast schon tragikomisch. Er hat nicht nur geschrieben, was er dachte. Er hat beschrieben, was passiert – und das Passierte hat ihn bestätigt. Ein Teufelskreis aus Rechthaberei, Tonfallpolizei und dem tiefsitzenden Wunsch, dass Jüdinnen und Juden doch bitte auch beim Protest anständig bleiben.


Hier kann man den gelöschten Artikel einsehen: https://archive.is/8w8Sb