Warum ein Parteitagsbeschluss mehr verwirrt als klärt – und Die Linke sich selbst im Weg steht
„Die Wahrheit beginnt zu zweit.“
– Hannah Arendt
Es war ein Parteitag der Hoffnung. Der Erfolg bei der Bundestagswahl, ein historischer Mitgliederzuwachs, das Ende der lähmenden Spaltung – all das ließ Die Linke in Chemnitz feiern, als hätte sie sich gerade neu erfunden. Und doch, kaum war die Hoffnung ausgesprochen, wurde sie auch schon überschattet. Von einem Beschluss, der eigentlich Klarheit schaffen sollte – und stattdessen Zwietracht säte. Es geht um Antisemitismus. Und um eine Definition.
Was nach einer Fußnote der politischen Programmatik klingt, ist in Wahrheit ein Lackmustest für das demokratische Gewissen: Wie erkennt man Antisemitismus – und wie verhindert man, dass die Kritik an einem Staat zur Dämonisierung eines Volkes wird?
Der Parteitag hat sich gegen die in Deutschland etablierte IHRA-Definition gestellt – und stattdessen mit knapper Mehrheit die sogenannte Jerusalemer Erklärung zur neuen Parteilinie erhoben. Das mag auf den ersten Blick wie eine wissenschaftlich inspirierte Debatte erscheinen. Tatsächlich aber ist es eine hochpolitische Entscheidung mit tiefen Rissen. Denn die JDA ist nicht neutraler, nicht wissenschaftlicher und nicht unproblematischer als die IHRA. Sie verlegt das Problem nur an einen anderen Ort: Statt übermäßiger Vorsicht nun übermäßige Offenheit. Statt juristischer Rigidität jetzt moralische Beliebigkeit.
Jan van Aken, Parteivorsitzender und einer der wenigen, die auf dem Parteitag für Differenz und Verantwortung plädierten, warnte zu Recht davor, sich vorschnell festzulegen. Seine Kritik an der IHRA-Definition ist nicht falsch: Ja, sie kann – und wurde – genutzt, um legitime Kritik an israelischer Politik zu diffamieren. Aber was van Aken dabei verschweigt, ist, dass die Jerusalemer Erklärung im Gegenzug das Tor öffnet für eine Form von Israelkritik, die den Antisemitismus nicht mehr erkennt, weil sie ihn nicht mehr benennen will.
Der Grundfehler beider Definitionen ist ihr Anspruch auf Eindeutigkeit. Doch Antisemitismus ist kein Begriff, den man mit dem Lineal vermessen kann. Er ist Projektion, Geschichte, Trauma, Sprache, Struktur – und er braucht Kontext. Es braucht einen kritischen Blick auf Israel, ohne in die Falle der Täter-Opfer-Umkehr zu tappen. Und es braucht Solidarität mit jüdischem Leben, ohne den Diskurs über Menschenrechte im Nahen Osten zu beenden.
In einer Zeit, in der jüdische Organisationen um Gehör ringen, weil Antisemitismus sich in Europa und darüber hinaus wieder enthemmter artikuliert – oft in Reaktion auf einen Krieg, für den sie nicht verantwortlich sind – und zugleich das palästinensische Volk unter der vollen Härte militärischer Gewalt leidet, die ganze Lebensgrundlagen zerstört, wäre es Aufgabe einer linken Partei, beide Realitäten ernst zu nehmen, ohne sie gegeneinander aufzurechnen – und aus dieser Spannung heraus kluge, reflektierte Politik zu entwickeln.
Mit dem Beschluss zur JDA hat Die Linke nicht einfach eine Alternative angenommen – sie hat eine Debatte beendet. Eine Debatte, die sie dringend führen müsste. Die IHRA ist nicht heilig, die JDA ist nicht sakrosankt – und der Versuch, sich per Beschluss auf eine der beiden festzulegen, ist eine Form von intellektuellem Kurzschluss, der der Partei schadet. Nicht, weil sie sich positioniert, sondern weil sie vorgibt, ein moralisches Problem durch Mehrheitsabstimmung lösen zu können.
Die Linke ist nicht gescheitert, weil sie streitet. Sie würde scheitern, wenn sie aufhörte, zu fragen. Es braucht eine Partei, die den Mut hat, Spannungen auszuhalten, Widersprüche nicht zu glätten und mit Unsicherheit produktiv umzugehen. Die Zeit verlangt keine schnelle Einigkeit – sie verlangt verantwortungsbewusste Offenheit.
Vielleicht ist genau das die Aufgabe: Nicht Definitionen zu beschließen, sondern Denkprozesse zu ermöglichen. Nicht nur zu sagen, was falsch ist – sondern Räume zu schaffen, in denen man gemeinsam herausfinden kann, was richtig sein könnte. Eine Partei, die das kann, ist nicht schwach, weil sie zweifelt. Sie ist stark, weil sie lernt.
„Demokratische Öffentlichkeit ist der Ort, an dem sich widersprüchliche Interessen artikulieren, kritisieren und – unter Bedingungen fairer Deliberation – in gemeinsame Ziele transformieren lassen.“
– Axel Honneth, Das Recht der Freiheit (2011), S. 278
Nachtrag (11. Mai 2025):
Die Kritik, die aktuell an der Partei Die Linke geäußert wird – vom Zentralrat der Juden, von prominenten jüdischen Intellektuellen wie Andrej Hermlin – ist heftig. Und sie ist nicht grundlos. Ich nehme sie ernst.