„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend / Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, / Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend / Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. / Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe / Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, / Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern / In andre, neue Bindungen zu geben. / Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Hermann Hesse, Stufen
Im Oktober 2022 erscheint das Buch Zur Entstehung einer ökologischen Klasse von Bruno Latour und Nikolaj Schultz. Schon der Untertitel „Ein Memorandum“ will mehr sein als eine bloße Positionsbestimmung: Es geht um ein warnendes, fast appellhaftes Dokument mit prophetischer Anmutung. Im Zentrum steht die These, dass eine neue, ökologische Klasse entstehen müsse, um die Ökokrise und den Klimawandel aufzuhalten. Eine Klasse, analog zur Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts gedacht, deren Entstehung nicht weniger als die Zukunft der Menschheit sichern soll.
Doch schon der erste Blick zeigt: Die Begrifflichkeit ist unklar, die Trennlinien diffus. Wer genau soll diese Klasse bilden? Wer ist ihr Gegenpart, ihr Antagonist oder wenigstens Agonist? Die Antwort bleibt vage. Sicher scheint nur eines: „Kommt es nicht zur Entstehung einer ökologischen Klasse, wird die Menschheit keine Zukunft haben“ (Latour/Schultz, Abstract).
Seit dem Kommunistischen Manifest von 1848 sind über 170 Jahre vergangen, Jahre, in denen Klassenbewusstsein unterschiedlicher Couleur entstanden und verschwunden ist, Jahre, in denen der Klassenbegriff Blütezeiten hatte, aber eben auch im wissenschaftlich-soziologischen Diskurs an Bedeutung verlor. Hinzukommen zahlreiche soziologische Theorien, welche durchaus einen gesunden Skeptizismus nahelegen können. Hier sei beispielhaft auf Foucault und den Dreiklang aus Wissen, Macht und Diskurshoheit oder Alvin W. Gouldner (1980) und sein Buch Die Intelligenz als neue Klasse verwiesen, einschließlich seiner bis heute relevanten Krisendiagnose der westlichen Soziologie (Gouldner 1974).
Auch wenn die Überzeugung, der Glaube an „Klassen“ als revolutionäres Subjekt oder mindestens einem ihr innewohnenden Impetus nie ganz verschwunden ist, scheint einer entstehenden ökologischen Klasse bereits im Voraus ein Potential zugeschrieben zu werden, ohne Klarheit darüber zu haben, wer diese Klasse tatsächlich bildet. Hierin liegen mehrere analytische Probleme. Wenn der Feind einer solchen Klasse unklar ist, lässt sich doch vermuten, dass es sich um einen alten Bekannten handelt: die kapitalistischen Verhältnisse, die sich für die Vielfachkrisen unserer Zeit verantwortlich zeichnen (Demirović et al. 2011).
Damit geht einher, dass der traditionellen Linken nicht mehr zugetraut wird, diese Verhältnisse grundlegend in Frage zu stellen. Neue Propheten braucht das Land, denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Ob sich diese Hoffnung aus Verzweiflung oder analytischer Notwendigkeit speist, bleibt offen. Doch der Glaube allein versetzt keine Berge.
Latour und Schultz haben durchaus Kandidat:innen im Blick: Fridays for Future, die Letzte Generation, neue ökologische Bewegungen – letztlich jedoch in Kontinuität mit der älteren Ökologiebewegung. Doch vergessen scheint die Geschichte dieser Bewegungen: Rachel Carsons Der stumme Frühling (1962) oder der Bericht des Club of Rome (1972) markieren frühere Meilensteine. Eine Geschichte der Ökologiebewegung wäre möglich – nicht identisch mit der der Arbeiterklasse, aber doch mit vergleichbarem analytischen Interesse.
Es wäre plausibel, die ökologische Klasse eher als Bewegung zu denken – zusammengesetzt aus jungen Aktivist:innen und alten Strukturen. Aber: Der Weg bleibt diffus, das Subjekt ist fragmentiert. Die Machtfrage bleibt unbeantwortet.
Wie Graf et al. (2022) betonen, braucht es eine Neujustierung des Klassenbegriffs. Wer von Klasse spricht, muss Diskurshoheit, politische Durchsetzung, strategische Organisation mitdenken. Bei Latour und Schultz bleibt das unausgeführt. Es dominiert ein idealistischer Anfangszauber. Doch nicht das Klima, sondern der Mensch ist dem Menschen Feind – diese Einsicht verlangt mehr als Hoffnung. Sie verlangt politische Strategie.
Eine ökologische Klasse mag als Denkbild nützlich sein. Ob sie aber real entsteht und handlungsfähig wird, bleibt offen. Skepsis ist angebracht. Aber sie entlässt uns nicht aus der Verantwortung, andere Wege zur gesellschaftlichen Veränderung zu suchen.
Wer von Klasse spricht, darf über Macht nicht schweigen – auch nicht im Namen der Ökologie.
Anmerkung: Das Essay entstand in der Vorlesung „Große Transformation: Klimawandel, Digitalisierung, Autoritarismus, Krieg – soziologische Zeitdiagnosen im Vergleich“ von Prof. Klaus Dörre im Wintersemester 2023/2024 am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Literatur:
Carson, Rachel (1996): Der stumme Frühling. 123. – 126. Tsd. d. dt. Gesamtaufl. München: Beck (Beck’sche Reihe, 144).
Demirović, Alex; Dück, Julia; Becker, Florian; Bader, Pauline (Hg.) (2011): VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus. Attac Deutschland. Hamburg: VSA-Verlag. Online verfügbar unter http://bvbr.bib-bvb.de:8991/F?func=service&doc_library=BVB01&doc_number=021105373&line_number=0002&func_code=DB_RECORDS&service_type=MEDIA.
Gouldner, Alvin Ward (1974): Die westliche Soziologie in der Krise. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Rowohlts deutsche Enzyklopädie, 360).
Gouldner, Alvin Ward (1980): Die Intelligenz als neue Klasse. Sechzehn Thesen zur Zukunft der Intellektuellen und der technischen Intelligenz. Frankfurt/Main: Campus-Verl.
Graf, Jakob; Lucht, Kim; Lütten, John (Hg.) (2022): Die Wiederkehr der Klassen. Theorien, Analysen, Kontroversen. Campus Verlag. Frankfurt/New York: Campus Verlag (Projekt Klassenanalyse Jena, Band 2). Online verfügbar unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:101:1-2022050508184567131333.
Latour, Bruno; Schultz, Nikolaj (2023): Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum. Deutsche Erstausgabe, 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp (edition suhrkamp Sonderdruck).